Gedenkrede von Ulrich Keßler vom 27. Januar 2014

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

im Namen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Lesben- und Schwulenverbandes begrüße ich Sie zu der heutigen Gedenkveranstaltung.

Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des KZ Auschwitz-Birkenau, des größten Ver-nichtungslagers des Nazi-Regimes. Der Jahrestag wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

Dass der Begriff Auschwitz in unserem Bewusstsein so präsent ist, ist nicht zuletzt Verdienst des früheren hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer, der gegen heftige Wider-stände die Frankfurter Auschwitzprozesse ab 1963 durchsetzte. Interessanter Weise hat sich dieser Fritz Bauer bereits seit 1957 auch immer wieder öffentlich gegen die Strafbarkeit homosexueller Handlungen gewendet. So schließt sich der Kreis, dass an diesem Tag aller Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, wie auch der Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert heute wieder zu entnehmen war. Dies muss betont werden, denn lange Zeit blieben die homosexuellen Op-fer aus der Gedenkkultur in Deutschland ausgeschlossen. Umso wichtiger ist es, dass dieser Missstand einem allgemeinen Konsens gewichen ist.

Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhauses und des Landtages Brandenburg sowie Parteivertreterinnen und Parteivertreter gedenken heute hier der homo-sexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Ausdrücklich be-grüßen möchte ich die Vizepräsidentin des Deutschen Bundes-tages, Claudia Roth, die Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Anja Schillhaneck, sowie die Leiterin der An-tidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, und Vertreter der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika.

Zivilgesellschaftliche Organisationen – wie der Völklinger Kreis, das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus, andersartig e.V., die Berliner Aidshilfe, der Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter, das Bündnis Faires Brandenburg, die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, der Humanistische Verband und viele weitere – sind heute ebenso vertreten.

Vielen Dank dafür, dass wir gemeinsam die verfolgten und ermordeten Opfer ehren und die Erinnerung an das Unrecht wachhalten.

Die Nationalsozialisten hielten Homosexualität für eine „widernatürliche Veranlagung“, für eine den so genannten „Volkskörper“ schädigende „Seuche“, die „auszurotten“ sei. Schon kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden im März 1933 die schwulen und lesbischen Lokale Berlins geschlossen. Die vollständige Infrastruktur der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, Lokale, Vereine, Verlage sowie Zeitschriften wurden aufgelöst, verboten, zerschlagen und zerstört.

Im Herbst 1934 setzte die systematische Verfolgung homose-xueller Männer ein. Über 100.000 Männer wurden polizeilich erfasst und rund 50.000 nach den Strafrechtsparagrafen 175 und 175a verurteilt. Etwa 10.000 schwule Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. Etwa 5.000 von ihnen über-lebten diese Qualen nicht.

Wir wollen an alle diese Menschen und ihr Schicksal erinnern. Das tun wir heute hier am zentralen Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen sowie an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager, wie zum Beispiel den Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück. Darüber hin-aus gibt es die so genannten Stolpersteine zur Erinnerung an das Leben einzelner Menschen.

Es ist unsere Pflicht, die verfolgten und ermordeten Opfer zu ehren. Zugleich müssen wir auch in der Gegenwart wirken und ein beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Lesben, Schwulen und Transgender setzen. Die aktuellen politischen Entwicklungen in Russland seien daher als besorgniserregendes Beispiel genannt. Es muss klar sein, dass Menschenrechtsverletzungen nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Dies darf auch im Rahmen der Olympischen Winterspiele nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Wir müssen wachsam bleiben. Und es gibt auch in Deutschland noch viel zu tun, allen voran die Rehabilitierung aller nach § 175 Strafgesetzbuch Verfolgten, auch derjenigen, die nach der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland verurteilt wurden.

Nach 1945 hat die Bundesrepublik die nationalsozialistische Strafverfolgung von Homosexuellen auf Grund der berüchtig-ten §§ 175, 175a des Strafgesetzbuchs unverändert fortgesetzt. Die im Dritten Reich verschärften Strafvorschriften wurden beibehalten und weiterhin exzessiv angewandt. Mehr als 50.000 Menschen fielen damit erneut einer Strafverfolgung wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen zum Opfer. Bislang hat sich der Bundestag bei den Betroffenen nur entschuldigt.

Der Deutsche Bundesrat hat im Oktober 2012 den Antrag des Landes Berlin auf Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten beschlossen. Doch bis heute hat keine Rehabilitierung stattgefunden.

Als Lesben- und Schwulenverband fordern wir alle politisch Aktiven auf, entschlossen zu handeln. Denn die staatliche Homosexuellenverfolgung ist ein Schandfleck in der deutschen Geschichte. Eine Verurteilung nach § 175 StGB hatte für die verfolgten Menschen über den Strafmakel hinaus soziale Ausgrenzung bis hin zu faktischen Berufsverboten zur Folge. Die Bundesregierung ist zu schnellem Handeln verpflichtet, damit die Rehabilitierung stattfindet, solange die Betroffenen noch leben.

Der letzte Überlebende der im Nationalsozialismus wegen Homosexualität verfolgten Männer war Rudolf Brazda. Kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung lernte er seine erste große Liebe kennen. Er lebte mit seinem Freund in der thüringischen Kleinstadt Meuselwitz offen zusammen – sogar eine Hochzeit feierten sie. Bald jedoch wurden sie verhaftet. Sechs der 44 Homosexuellen, die man bei den Altenburger Homosexuellenprozessen anklagte, wurden schließlich nach Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Außer Brazda überlebte den KZ-Terror nur einer, der allerdings so entkräftet war, dass er schon bald nach der Befreiung, im Februar 1946, starb. Viele der Verfolgten wurden ihres Lebens aber nicht mehr froh. Jegliche Anerkennung blieb ihnen versagt, sie wurden weiter stigmatisiert und kriminalisiert. Anders erging es Rudolf Brazda. Er zog nach Frankreich, wo Homosexualität zumindest strafrechtlich nicht verfolgt wurde. Er baute sich eine neue Existenz auf und fand schließlich wieder einen Partner, mit dem er 50 Jahre zusammenlebte. Mit 95 Jahren wurde Rudolf Brazda schließlich Ehrenmitglied des Lesben- und Schwulenverbandes und besuchte Berlin und dieses Denkmal. Im August 2011 starb er im Alter von 98 Jahren.

Weniger glücklich war Horst Hörig, dessen Geburtstag sich nächsten Montag zum hundertsten Mal jährt. Er überlebte zwar die NS-Zeit und den Aufenthalt im Konzentrationslager Sachsenhausen, aber er nahm sich 1961 selbst das Leben. Es wird vermutet, dass er mit den Erlebnissen aus seiner Vergan-genheit nicht fertig wurde.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, da die Zeitzeugen nicht mehr von dem erfahrenen Leid berichten können, ist es umso mehr unsere Pflicht, die Erinnerung wach zu halten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Es besteht nun die Möglichkeit, Blumen und Kränze niederzulegen.

Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort.